Langsam lichtet sich die kühle Nacht. Das tiefe Grau des Nebels erhellt sich allmählich und beginnt sich zu regen. Die gemächliche Bewegung der Schwaden scheint auch die Kälte mit sich wegzutragen. Die Sicht aus dem Fenster des Hotel Belvédère präsentiert sich endlich, als die Konturen des Tals sich zeigen. Im Inneren ist es warm. Die Passstrasse, welche das Hotel umschmiegt, ist noch kaum befahren. Der erste Werkverkehr kurvt mehr oder weniger zügig den Furkapass hinauf. Das Geräusch von Motoren gehört ebenso zum Hotel Belvédère wie die Stille und die Nähe zum Rohnegletscher. Letzterer zieht sich seit Jahren allmählich zurück.
Das 1882 erbaute Hotel Belvédère stammt aus einer Zeit, in der die Passstrassen die einzigen schnellen Verbindungswege darstellten. Der Grimselpass war noch im Bau und das Hotel Belvédère wurde in die markante Kehre der Furka Passstrasse platziert, welche bei ihrem Neubau bewusst zum Gletscher hingezogen wurde.
Vor dem ersten Weltkrieg herrschte ein regelrechter Bauwahn in der Tourismusbranche. Der Trend des Bergsteigens mutierte Ende des 19. Jahrhunderts ins Bergbeobachten, ermöglicht durch die Vielzahl neuer Bauten der Belle Époque. Das Hotel Belvédère ist ein Relikt aus genau dieser Zeit. Haben früher Familien das Belvédère mehrere Wochen lang als ihr Sommerzuhause deklariert, sind heute vor allem die motorisierten Touristen, Velofahrer und geheime oder offene Nostalgiker zu Besuch, wenn auch nicht so langfristig. In den 1990ern wurde das Hotel sanft und liebevoll renoviert und ist dem Geiste seiner Zeit treu geblieben. An einem bewölkten Tage wie diesem hält sich der Verkehr auf dem Furka in Grenzen. Nur die dedizierten Velofahrer und Biker kämpfen heute mit den Höhenmetern und frischen Temperaturen. Das Belvédère hält seine Tore heute besonders weit offen, aus der Küche weht ein feiner Duft. Der Speisesaal ermöglicht einen Rundumblick in das Rhônetal. Ein Blick, welcher sich, abgesehen vom schrumpfenden Gletscher, nicht sonderlich unterscheidet vom Blick vor knapp 130 Jahren. Sitzt man alleine am Esstisch, scheint die Zeit sogar gänzlich still zu stehen. Die Art-Déco Stühle drücken leicht, halten den Gast automatisch in einer tischgerechten Körperhaltung, sodass die volle Aufmerksamkeit Speis, Trank und den grasbewachsenen Bergfassaden gehört. Es gibt nicht viel, was ablenkt. Wer allerdings eine Liebe fürs Detail aufweist, kann sich nebst dem Erspähen von Alphütten in der Ferne die verschiedenen Blumentapeten in den Zimmern des Belvédère zu Gemüte führen. Freilich würde man sowas Schönes zu Hause nicht an die Wand kleben, aber hierhin passt es allemal. Für ein Museum ist das Belvédère doch zu heimelig, dennoch läuft man im Belvédère mit leicht nach hinten gekipptem Kopf und bedachten Schrittes auf dem knarrenden Parkett herum. Dieser Ort trägt Geschichte in sich. Man spürt es. Mit der zunehmenden Abenddämmerung wird man sich dessen immer mehr bewusst. Das Knattern der Motorräder und quietschen jeglicher Reifen verstummt allmählich. Wer nun aus dem Fenster blickt, sieht immer weniger Zeugen unserer Zeit. Die Küche ist geschlossen, es sitzen nur noch ein Paar Gäste im Speisesaal und spielen Karten oder lesen in einem der Fauteuils ein Buch. Oder ist das doch ein iPad? Who cares.
Der Nebel hat sich gen Abend etwas aufgelöst. Vielleicht wäre ein kleiner Abendspaziergang angesagt. Keine hundert Schritte vor dem Hotel sieht man von einer Terrasse auf den Gletscher und die einzelnen Lichter im Tal. Der fehlenden Sonne wird man sich sehr schnell bewusst. Man hätte eben doch eine Jacke anziehen sollen. Beim Blick zurück über die Schulter erfasst man die steinerne Fassade des Belvédère im Lichte der warmen Innenbeleuchtung. Der einzige Ort, an dem man jetzt noch sein möchte, ist im warmen Zimmer des Belvédère, und der einzige Ort, an dem man jetzt schlafen möchte, ist einer, an dem die Zeit stillzustehen scheint. Denn nur so kann man sich einbilden, dass die ganze Nacht nur eine Pause war und der selbe Tag wieder ganz von vorne beginnt.